Im besten Falle sehen Sie: nichts. Prävention widerspricht der Logik des handlungsstarken Politikers. Doch ohne sie wachsen die Terroristen nach.
Ein Kommentar von Frida Thurm
Will man der aktuellen Lage etwas Positives abgewinnen, dann dies: Die Ampelregierung, eigentlich so zerstritten, dass ihre Mitglieder nicht einmal miteinander vernünftig sprechen, will mit der CDU und den Bundesländern zusammenarbeiten, um ein Problem zu lösen. Das ist gut, denn die Lage ist ernst, es geht um Konsequenzen aus dem islamistischen Terroranschlag von Solingen. Bei den Gesprächen soll es um die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, die Bekämpfung des islamistischen Terrors und das Waffenrecht gehen.
Es stimmt: Maßnahmen dieser Kategorien können dazu beitragen, die Sicherheit zu erhöhen. Wenn ein Messer beschlagnahmt wird, bevor ein Täter es einsetzen kann. Wenn jemand das Land verlassen muss, bevor er einen Anschlag ausführen kann. (Was er dann im Drittstaat tut, ist eine andere Frage.) Wenn Geheimdienste Terrorpläne in Chats mitlesen und die Polizei sie verhindert. Es sind Erste-Hilfe-Maßnahmen der inneren Sicherheit.
Fatal wäre, diese Erste Hilfe für die Bekämpfung der Ursachen zu halten. "Wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir werden Lehren ziehen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Doch es ist zu befürchten, dass diese Lehren zu kurz greifen. Ein Einreisestopp für Syrer und Afghanen etwa wäre nicht nur rechtlich fragwürdig, wie CDU-Chef Friedrich Merz inzwischen festgestellt hat, sondern auch wirkungslos gegen Täter wie den 15-Jährigen aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis, der einen islamistischen Anschlag auf den Leverkusener Weihnachtsmarkt geplant hatte.
Die wichtigste Frage nach Solingen und anderen terroristischen Taten lautet: Wie fasst jemand – ob nach Deutschland geflohen oder hier geboren – überhaupt den Plan, im Namen einer menschenverachtenden Ideologie zu morden?
Das ist keine rhetorische Frage. Sie zielt auch nicht auf Verständnis für den Täter ab. Nein, sie führt direkt zur Ursache des Problems: Nur wer verhindert, dass sich Menschen zu Feinden unserer offenen Gesellschaft entwickeln, verringert wirksam die Gefahr, dass sie zur Waffe greifen. Alles, was bereits Radikalisierte von ihrer Tat abhalten soll, ist eben nicht mehr als eine Notfallmaßnahme.
Ob Bundesregierung, Union und Länder mehr als Erste Hilfe leisten, wird sehr davon abhängen, was sie unter der Bekämpfung des islamistischen Terrors verstehen. Nur mehr Befugnisse für Geheimdienste oder auch, Achtung, hässliches Wort: Prävention?
Denn die fehlt bisher in der Debatte nach Solingen. Beinahe erstaunlich, denn kaum etwas versprechen Politiker leichter als "Wir brauchen mehr Prävention!" Nur allzu oft folgt dann: absolut nichts.
Dabei geht es um nicht weniger als unser friedliches Zusammenleben. Ohne Präventionsmaßnahmen wachsen beständig Terroristen nach, die sich von einer freien Gesellschaft abgestoßen und von radikalen Ideologien angezogen fühlen. Um die Zahl derer, die in letzter Minute noch aufgehalten werden müssen, so weit wie möglich zu senken, ist deshalb entscheidend, dass es bei den Maßnahmen von Bundesregierung, Union und Ländern nun nicht nur um Waffenverbotszonen oder effiziente Abschiebung geht, sondern ums Ganze. Dazu gehören:
- Schnelle und gute Erstversorgung von Geflüchteten. Eine menschenwürdige Unterbringung und psychologische Betreuung sind damit ebenso gemeint wie eine schnelle Bearbeitung ihrer Asylanträge, genügend Plätze in Sprachkursen und die rasche Anerkennung von Berufsabschlüssen – alles, was Menschen mit Bleiberecht so schnell wie möglich zu einem geregelten Leben in Deutschland verhilft.
- Ein besonderer Fokus auf Kinder und Jugendliche, egal ob geflüchtet oder ohne Migrationsgeschichte. Denn kaum jemand ist so anfällig für eine Radikalisierung wie junge Menschen in Sinnkrisen. Extremistische Strömungen, gleich welcher Art, die ihnen einen Sinn, einfache Antworten und ein Gemeinschaftsgefühl versprechen, haben es besonders leicht.
- Maßnahmen, die der Erkenntnis Rechnung tragen, dass das Internet der Ort für die Radikalisierung ist und nicht mehr, wie im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters, radikale Moscheen. Dazu gehört mehr Medienkompetenz von Jugendlichen und vor allem Pädagogen ebenso wie schnelles Löschen von Terrorpropaganda auf Plattformen.
Es gibt in der Prävention viel nachzuholen. In Berlin konnte Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Juli zwar einen sogenannten Sicherheitshaushalt präsentieren, der mehr Geld für Bundespolizei, Bundeskriminalamt und schnellere Asylverfahren vorsieht – doch ob weiterhin Geld für Integrationskurse da ist? Bestenfalls unklar.
Bildung spielt in der Prävention eine zentrale Rolle, nicht nur deshalb ist es katastrophal, dass Tausende geflüchtete Kinder nicht zur Schule gehen. Den Lehrermangel endlich mit absoluter Priorität anzugehen, würde im Übrigen nicht nur ihnen, sondern allen Kindern in diesem Land helfen.
Wie niedrig das Ansehen von Prävention ist, lässt sich auch an einem besonders tragisch gescheiterten Projekt der Ampel sehen: Das Demokratiefördergesetz war dazu gedacht, Initiativen politischer Bildung und gegen Extremismus aller Art dauerhafte Finanzierung zu ermöglichen – derzeit laufen Förderungen in der Regel nur kurze Zeit und müssen immer neu beantragt werden. Verlässlichkeit und Vertrauen sind aber gerade in der Arbeit mit Jugendlichen unerlässlich. Nach langem Streit in der Koalition blockiert die FDP das Gesetz bis heute.
Schon klar, Prävention ist alles andere als glorreich. Sie widerspricht der Logik des handlungsstarken Politikers, Prävention greift ein, bevor etwas passiert. Im besten Falle sehen Sie: nichts. Selbst ihr Erfolg lässt sich nur schwer beziffern, weil in der Regel unklar bleibt, was ohne sie passiert wäre. Ganz anders als die Zahl einkassierter Messer oder "zurückgeführter" Menschen.
Dazu kommt: Prävention wirkt in Zeiträumen, die länger sind als politische Legislaturperioden und damit uninteressant für alle, die sich mit Erfolgen schmücken möchten. Ein nachweislich erfolgreiches Programm gegen Jugendgewalt etwa wirkt nach Jahrzehnten: Jugendliche wurden weniger straffällig, weil ihre Eltern nach der Geburt Hilfe bei Erziehung, Bürokratie und in Gesundheitsfragen bekamen.
Um für mehr Sicherheit zu sorgen, muss sich dringend die Erkenntnis durchsetzen, dass Prävention kein Gefallen für die potenziellen Täter ist.
Sondern die wichtigste sicherheitspolitische Maßnahme, die es gibt.